ALPHABET, eine 26-teilige Fotoserie von Pavel Odvody mit Gedichten, historischen Miniaturen und einem Vorwort von Eric Giebel, Deutsch / Englisch

Auf die Frage, was Fotografie heute sein kann, geben Pavel Odvody und Eric Giebel in „Alphabet“ eine der vielleicht verblüffendsten Antworten des ganzen Buches: Reminiszenz. Denn Odvodys Arbeiten verweisen auf eine Zeit, in der das Medium Fotografie noch in Kinderschuhen steckte und mittels ihres neuen Arsenals – wie Doppelbelichtung, Solarisation, Rayografie oder Distorsion – die Möglichkeiten im Bereich der Kunst ausbuchstabierte.

Aber nicht nur das. Mit dem Ausbuchstabieren ging auch der Anspruch einher, den Körper als Bezugsgröße in Beschlag zu nehmen, ebenso wie es Zeichnung, Plastik oder Malerei längst taten. Die Aktfotografien, die Alfred Stieglitz von seiner Geliebten Georgia O’Keefe machte, wären da sicherlich nur als eines von vielen Beispielen zu nennen, viel diskutiert und herausragend für die Zeit.

„Wo entscheidet sich, ob etwas ...

Von dieser Basis brechen die beiden Darmstädter Odvody und Giebel zu einer 26-teiligen Expedition auf. Auch in „Alphabet“ wird – analog den Anfängen der Fotografie – ausbuchstabiert, nur eben zeitlich spiegelverkehrt. Man fühlt sich ein wenig an Tübke erinnert und sein Verdikt von der „Fähigkeit zur Utopie nach Rückwärts“, wenn Odvody die Bildstrategien aus dem Kanon der Fotogeschichte zitiert, um zu einer neuen, ganz anderen Lesart der Aktfotografie zu kommen.

... Bild wird oder Zeichen?“

Was dort in der Körpersprache mal vieldeutig erscheint, mal verrätselt in der Schwebe bleibt, wird bei ihm konkret, eindeutig, ganz lesbares Zeichen. Giebel sekundiert, unter anderem mit Texten aus seinem Archiv, um Pavel Odvodys Foto-Arbeiten zu einem literarischen Resonanzraum auszubauen, in dem es um Überlieferung und Gedächtnis geht. Sei es in Gedichtform, oder als historische Miniatur, schaffen Giebel und Odvody Sprach-„Bilder“, in der die Trennung von Bild und Zeichen aufgehoben zu sein scheint. Und doch immer wieder verschwimmt. „Alphabet“ lässt sich dank dieser Strategie nicht nur als Corpus erotischer Symbole lesen. Egal, welchem Narrativ man folgt. Dem geprinteten. Oder dem geschriebenen.

„So photographiert man heute nicht“, hat Peter von Kornatzky einmal über Odvody geschrieben. Unser Glück, dass er’s doch tut.

Pavel Odvody und Eric Giebel: „Alphabet“ – ein Corpus erotischer Symbole und wieder nicht …

https://krautin.com/portfolio/pavel-odvody-und-eric-giebel-alphabet/
__________

Kunsthalle Darmstadt, Juli - August 2015, Pavel Odvody: Seismographien: Subtil lösen die Fotografien des Künstlers Pavel Odvody die physikalische Frage des Welle-Teilchen-Dualismus aus dem 17. Jahrhundert auf: Das Licht wird zur Skulptur und zum eigentlichen Hauptakteur. Für die Betrachter seilen sich subjektgewordene und scheinbar eigenständig agierende Lichtwellen um Brüste, Gesäß, Bauch und Schenkel wie von Venusstatuen. So entsteht weniger das schemenhafte, naturalistische Abbild eines Körpers, sondern vielmehr eine Sehnsucht und Begierde danach, den Wegen und Schwingungen des Lichts nachzuspüren. Das Licht wird dabei zur seismographischen Nadel, die auf den Sensibilisierungsschichten des Filmmaterials das sachte Beben des Zeitraums, der die entrückten Figuren umgibt, ertastet. Als Umschreibung vollständiger Nacktheit im 19. Jahrhundert wird die «Venus» in Odvodys Arbeiten zu einem Versprechen, zu einer Ahnung, die — statt den Fotografien als Realität vorauszugehen — die Betrachtenden in eine eigene Wirklichkeit verführt.

(León Krempel, 2015)
__________

Erst der Schatten beschreibt das Licht. Dass ist eine ganz und gar wundersame Bildwelt, eine höchst unwahrscheinliche Ansammlung seltsamer Bildmotive, die kaum etwas mit dem zu tun haben, was uns tagtäglich tausendfach in Medien, im öffentlichen Raum oder in Kunsthäusern an photographierten Bildern angeboten wird. Pavel Odvodys Bildwelt ist uns also auf den ersten Blick zunächst fremd, wir verbinden damit keine Seh-Erfahrung und nur wenigen ist vermutlich etwas Vergleichbares bekannt. Nur darin sind wir sicher: so photographiert man heute nicht - weder in der angewandten Photographie, noch in der sogenannten 'freien' Photographie. Doch auf den zweiten Blick wird allmählich deutlich, was ihn bewegt. Er befaßt sich nicht mit der äußeren Wirklichkeit, also mit der subjektiven Darstellung einer objektiven Dingwelt. Vielmehr interessiert ihn das Sichtbarmachen einer inneren Wirklichkeit. Ihn beschäftigt nicht der Ausdruck eines konkreten menschlichen Gesichts, sondern die Ausdruckskraft des menschlichen Gesichts an sich; nicht die Schönheit einnes bestimmten Körpers, sondern der Prozess in dem sich Körper ganz elementar in wechselndem Licht und bewegten Phasen zu etwas wie 'Schönheit' verdichten; nicht die Form oder das Material eines Dinges, sondern die Bedingungen und Voraussetzungen, die erforderlich sind, um über Konturen und Reflexe das visuell greifbar zu machen, was das 'Wesen', was, bei aller Vergänglichkeit, das 'Bleibende' der Dinge ist. Nur der gestörte Blick nach außen, auf überlagerte, miteinander verschränkte, zerteilte und erneut kombinierte Bildsegmente, lenkt den Blick nach innen - auf erlernte und erprobte Konfigurationen, die eben - weil bekannt und erwartet - schon nicht mehr genau wahrgenommen werden müssen. Erst die Disproportion schärft den Blick für Proportionen. Erst die schwindende Kontur zeigt uns, was ein Ding, eine Figur oder ein Zusammenspiel von Körpern im Grunde ist. Erst das Verdichten von Bewegungen und Bewegungsabläufen sensibilisiert uns für die Frage, wie und wann eigentlich die 'Bewegung' einen Körper zur Figur macht und wie sie sich selbst in ruhende Dinge einschreibt. Schließlich: erst der despektierliche Umgang mit dem Sujet lehrt uns die Achtung vor und die Liebe zu Sujet. - Erst der Schatten beschreibt das Licht!

(Peter von Kornatzki, Auszug aus einem Text von 2005)

It is only the shade that describes the light. This is a truly phenomenal, extremely unusual collection of novel picture themes that have barely anything to do with the uncountable daily offerings of photographed pictures in the media, taken in public places or at art museums. So Pavel Odvody's picture world may appear strange to us at first sight... we are unable to associate a visual experience with it, with only a few capable of sharing his perspective. But of one thing we can be certain: this isn’t today’s way of taking pictures – either as an applied photographer or a so-called free photographer. But at second glance, it gradually crystallizes what he is driven by. He is not concerned with exterior reality, i.e. the subjective presentation of an objective physical world. Rather, his passion lines in the visualization of an inner reality. He doesn’t focus on the expression of a concrete human face, for example, but the expressive power of the face in itself; nor the beauty of a certain body, but the manner in which bodies converge into something like 'beauty', fully elementarily in changing light and moving phases; not the form or material of an object, but the conditions and stipulations needed to make the 'essence' – that which prevails over an object’s transience – visually graspable. Only the anxious look at the exterior, at the pictures’ superimposed, interlocked, divided and recombined segments, focuses our eyes to the interior, to acquired and approved arrangements which – precisely because they are familiar and expected – no longer have to be perceived exactly. Only the disproportion sharpens the eye for proportions. Only the blurring contours allow an object, a figure or grouping of bodies to become clear. Only the concentration of movements sensitizes us to the question of how and when movement transforms a body into a figure and how it even leaves traces in things at rest. Finally: only an irreverent relationship for the theme teaches us to respect and become passionate for the theme. Only the shade describes the light.

(Prof. Peter von Kornatzki, excerpt from text written in 2005).
___________